Der gute alte Handarbeitsladen
Manchmal trifft man unverhofft auf Dinge, Orte oder Menschen, die aus der Zeit gefallen scheinen. In Zeiten schicker, minimalistischer online-shops und klimatisierter shopping-Tempel (mit extra heißen Parkplätzen außenherum) bin ich neulich über einen gestolpert. Im wiener “Servietenviertel”- einer Gegend, die für ihre Gründerzeithäuser und kleinen Gassen lokal bekannt ist, gibt es noch einen richtigen Handarbeitsladen. “Tante Emma” steht hier- laut stolzem Zertifikat über der Theke- seit 60 Jahren und verkauft Knöpfe, Spitzen, Futterstoffe, Borten, Schnallen, Nähgarn, Hosenträger und Gardinenringe und was der gleichen praktische Dinge mehr sind. Und was für eine spitzen Verkäuferin ist sie (60 Jahre kommen nicht von irgendwo)!!!
Hat sie dich einmal in der Mangel, kann man sich nicht mehr entwinden, sondern muss einfach etwas kaufen. Selbst wenn der Stoff, den sie aus einem der Schränke hervorgezaubert hat vergilbt und staubig ist (aber nach dem Waschen -versprochen- wieder strahlend weiß wird), gibt es kein Entrinnen. Das Interieur ist mindestens ebenso “vintage” wie seine Besitzerin, was zum Charme durchaus beiträgt. In den gefühlt 45 Grad im Laden stapelt sich die Ware auf allen Oberflächen vor der gemusterten Tapete und den Vorhängen, die in 5 Schichten die Fenster bedecken und ich wundere mich, dass ich nicht mit Petticoat und Dauerwelle aus dem Laden komme.
In Wien gibt es noch einige wenige echte Handarbeitsläden. Immer sind es Frauen, die sie erhalten, immer wird darin auch Gespräch geboten, manchmal auch gratis Taschentücher, je nach Bedarf. Laut einer dieser tüchtigen Kämpferinnen wider den Zeitgeist, gab es solche Geschäfte früher an jeder Ecke. Natürlich. Die teuer gekaufte Hose musste geflickt werden, ein Knopf wurde rasch ersetzt, eine neue Borte machte die alte Bluse “sommerfein”. So ist das heute einfach nicht mehr. Unsere überquellenden Kleiderschränke- es sind inzwischen meist begehbare Zimmer und keine Schränke mehr- oder die Fast Fashion bieten sofort ein neues Teil, sobald ein Riss vorhanden, ein Knopf weniger oder der Stoff einfach nur ausgeblichen oder “verlebt” ist. Laut “Tante Emma” will heute einfach niemand mehr arbeiten. Ganz so würde ich es nicht sehen, aber die Art der Arbeit und die Notwendigkeit dazu hat sich verschoben. Konzerne haben die Textil-Industrie so weit optimiert, dass es nicht mehr notwendig ist, zu wissen, wie man einen Knopf annäht oder einen Reißverschluss ersetzt. Die Dame in Bangladesch kann das unter widrigsten Umständen viel günstiger machen. Leider geht mit dem Laden und der Kleidung, die mehr als eine Saison getragen werden kann eben auch das know-how verloren.
Und wir unterstützen mit unseren überdimensionierten Konsum-Kästen nicht nur die Umweltvergiftung und Ausbeutung von Frauen in Ost Asien, sondern auch die Verödung unserer Innenstädte. Hier sei also ein Aufruf gestartet: Sucht euch einen Handarbeitsladen um die Ecke!! Vielleicht stoßt ihr auch auf so ein Original, das euch, neben hervorragender Beratung, einem gratis Verkaufs- Seminar auch noch eine Zeitreise in die 60er bietet! Jeder braucht mal einen Knopf, auch weniger passionierte NäherInnen. Anstatt ihn Jeff Bezos hinterher zu werfen, gebe ich meinen Knopf-Euro lieber meiner ganz individuellen “Tante Emma” und hoffe, dass sie es auf mindestens 70 stolze Jahre hinter dem Tresen schafft!